Hier liebe Besucher eine Leseprobe aus dem Buch von Raffaela Rudnik
Ich geh`morgen mal zum Arzt
Diagnose Krebs:
Ein Thema,das wir im Allgemeinen aus unserem Alltag verdrängen - und doch kann
es jeden treffen.
Wer damit konfrontiert wird weiß, dass plötzlich alles anders wird.
Wie gehen Betroffene und Angehörige damit um? Raffaela Rudnik beschreibt ihren
Weg
und zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie sie sich ihrer Erkrankung stellt, sie
annimmt und
sich damit auseinandersetzt. Und sie macht deutlich, wie wichtig es ist, die
Verantwortung
für den eigenen Körper nicht aus der Hand zu geben. Ein Buch das Mut macht.
Diagnose Plasmozytom - Tagebuch einer seltenen Krankheit
„Ich geh´ morgen mal zum Arzt“
Das sind die Worte, mit denen ich mich am Donnerstag, dem 12.01.2006, ins
Wochenende verabschiede, nicht ahnend, dass dieser Tag der letzte Arbeitstag für
lange Zeit, vielleicht sogar für immer gewesen ist.
Am Freitag, dem 13. Januar 2006, wurde bei einer MRT – Untersuchung
festgestellt, dass eine „Entzündung“ im linken Oberarm sei. Die Biopsie ergab,
dass ich am Plasmozytom erkrankt bin, die Tumoren im Oberarm hatten bereits
große Teile des Oberarmknochens weggefressen, der Rest war durchgebrochen – mein
Arm war regelrecht unter der Kugel abgebrochen. Es folgte eine OP, in der der
Wiederherstellungschirurg den Knochen mit Knochenzement aufbaute und durch eine
Platte (wie ein Schuhlöffel) wurde das Ganze zusammengehalten,
„zusammengeschraubt“. Danach begann die eigentliche onkologische Behandlung, die
erste Chemo.
1.) Die Chemo beginnt:
Mittwoch, 22. Februar, ist wieder Klinik angesagt. Seit gestern ist Raimund
krankgeschrieben, weil er stark erkältet ist. So kann er mich begleiten ohne
Urlaub nehmen zu müssen. Um 10.00 Uhr stellen wir uns auf der Station vor. Ich
werde in ein Einzelzimmer geführt. Dr. Reinicke will gleich kommen, aber er hat
viel zu tun, springt von einem Zimmer zum anderen.
Also werde ich erst einmal aufgenommen. Das bedeutet, ich werde gewogen,
Blutdruck und Fieber werden gemessen und der Puls wird gefühlt. Dann darf ich
erst einmal zu Mittag essen.
Dr. Grabow kommt um Blut abzunehmen und legt eine Braunüle. Schon erhalte ich
meine erste Infusion, den Knochenhärter.
Während die Infusion gelegt wird, kommt Frau Reese und richtet mir aus, dass Dr.
Reinicke später kommt weil er noch so viel zu tun hat.
Mit der Infusion reicht man mir meine Medikamente, die ich jetzt einnehmen soll:
Die Chemo startet!!
Während Frau Reese bei mir bleibt, geht Raimund in die Cafeteria, um etwas zu
essen. Frau Reese bespricht mit mir das innere Bild, das ich beim Einnehmen der
Tabletten bezüglich ihrer Wirkung visuali-sieren will. Ich sehe einen
Widerspruch. Ich will die Krankheit ja nicht bekämpfen, sondern annehmen und
integrieren, aber die harte Chemie zerstört die Zellen. Doch wir kriegen es hin,
den Widerspruch aufzulösen. Die bösen Zellen mussten sich so stark vermehren. Um
mich darauf aufmerksam zu machen, dass meine Seele über den Körper das Zeichen
gibt: Da läuft etwas nicht gut!!
Nun haben sie ihre Aufgabe erfüllt. Damit sie den Dreh kriegen, mit dem Wachsen
und Vermehren aufzuhören, brauchen sie jetzt den deutlichen Hinweis: Danke das
genügt!!
Das geht nur, wenn die, die nicht mehr gebraucht werden, aufgelöst werden, aus
dem Körper geschwemmt werden und somit wieder für die nachkommenden gesunden
Zellen Platz zu machen.
Fortsetzung folgt:
2) Das Plasmozytom wird angenommen als mir zugehörig, die „bösen“ Zellen werden
weggeschickt – war das nicht im alten Griechenland auch so – der Bote der
schlechten Nachricht wurde getötet!? Das ist auf jeden Fall ein schönes Bild:
Die „bösen“ Zellen aufgelöst, die „guten“ können sich wieder breitmachen. Als
würde ich eine rituelle Handlung durchführen, so schlucke ich voll konzentriert
meine Tabletten und habe dabei dieses Bild im Kopf.
Wir reden noch über die Fragen, die sich nach der Diagnose immer wieder
aufdrängen: Warum trifft mich diese Krankheit? Was habe ich dazu beigetragen?
Bin ich mit verantwortlich dafür, dass sie jetzt ausbricht? Was will mir diese
Krankheit sagen, was soll ich daraus lernen? Wie gehe ich damit um?
Ich reflektiere: Da ich für mich den Stress in der Schule und die Überarbeitung
durch meine Maßlosigkeit, meine „Arbeitswut“ mit verantwortlich mache für meine
Krankheit, ist es nötig, Abstand zu gewinnen, mich von dem Thema Schule zu lösen
und mich mit meiner jetzigen Situation auseinanderzusetzen.
Dazu gehört, dass ich mir neue Perspektiven suche, dass ich die Zeit der
Chemotherapie bewusst erlebe, mir Zeit für mich nehme, mich auf mich besinne,
mich in Entspannung und Meditation übe. Viel Ruhe muss ich mir gönnen und viel
mehr auf meine innere Stimme hören. Das ich Tagebuch führe und alles was mich
bewegt aufschreibe, das hilft mir ungemein dabei meine Gefühle wieder
wahrzunehmen, wieder in mich hineinzuhorchen.
Als Raimund wiederkommt, hat er ein Spiel gekauft: „Kreuzwort-Würfeln“, das
spielen wir zusammen, bis endlich Dr. Reinicke kommt. Er bespricht die
Tabletteneinnahme mit mir und legt mir ans Herz, eine Blutkonserven-Infusion
anzunehmen, weil mein HB-Wert wieder sehr schlecht ist, wie letzte Woche. Er
sagt, der Wert werde erfahrungsgemäß noch viel schlechter durch die Chemo. Er
rät mir dringend zu; ich soll es mir überlegen. Mein Blutzucker ist auch
schlecht, sehr hoch, 400. Der normale Wert ist 110 bis 140. Dr. Reinecke fragt,
ob ich denn Diabetiker sie oder mein Blutzuckerwert öfter erhöht sei und fügt
hinzu, dass wir den Blutzuckerwert unbedingt im Auge behalten müssen. Sein
Pieper geht, er will noch einmal wiederkommen.
Raimund und ich spielen weiter, bis die Infusion durchgelaufen ist.
Dr. Grabow hängt sie ab und rät mir auch zur Bluttransfusion. Schweren Herzens
gebe ich nach, obwohl ich ein Problem damit habe, Blut von einem anderen
Menschen zu bekommen, auch wenn es nur wenig ist. Nicht das ich Angst habe, mich
mit einer Krankheit, zum Beispiel HIV, zu infizieren, nein, es ist mehr das
Gefühl, das Blut in mir zu haben, das durch einen anderen Menschen floss.
Was, wenn dieser Mensch mir ganz unsympathisch wäre? Oder wenn er Charakterzüge
hat, die ich nicht mag? Oder wenn er gar kriminell ist?
Ich weiß, dass meine Befürchtungen Quatsch sind, darum gebe ich ja auch nach,
aber ein Gefühl basiert ja nicht auf logischen Tatsachen, darum ist es nicht
leicht für mich. Dr. Grabow entnimmt Blut für eine Kreuzprobe, morgen früh
bekomme ich dann „ frisches Blut“.
Raimund bleibt noch bis 20.00 Uhr. Als er weg ist, kommt die Krankenschwester
und führt noch einen Test durch. Jetzt liegt der Blutzuckerwert bei 340, also
schon weniger; die Nachtschwester wird noch einmal testen. Um 23.00 Uhr misst
die Nachtschwester noch mal den Blutzuckerwert und stellt fest, dass er jetzt
bei 214 liegt. So könne man über Nacht lassen meint sie und erklärt mir, dass
durch die Tabletten, die ich nehmen muss, innerhalb kürzester Zeit hochschnellt
und dann langsam wieder sinkt.
Also ist das doch nicht so außergewöhnlich, warum tut Dr. Reinicke dann so, als
sei das ein Phänomen, das nur mich betrifft? Wieso sagt er mir nicht, dass das
normal ist, das der Blutzuckerwert unter der Chemie die ich zu mir nehmen muss
steigt?
Er mag zwar sehr nett sein, aber ich glaube, er hat ein mächtiges Problem mit
seiner Autorität. Er lügt, er beschönigt, sagt Halbwahrheiten, um sei Gesicht
nicht zu verlieren. Er mimt den Unfehlbaren, das hat er doch gar nicht nötig!
Ich möchte Offenheit und Klarheit, kapiert Doc?
Endlich Schlafe ich ein. Zum ersten Mal lasse ich die Diclophenac weg, die ich
nehme, um die Nacht relativ schmerzfrei zu überstehen. Auch ohne dieses
Schmerzmittel schlafe ich gut. Aber natürlich muss ich die Tabletten – Chemo –
Therapie verarbeiten. Prompt habe ich in der Nacht einen aufschlussreichen
Traum: In mir ist alles voller mehrstelliger Zahlen, wie auf einer riesigen
Tafel. Es stehen auch Wörter da wie „Plasmozytom“ und alle anderen Fachausdrücke
für Blutzellen und Eiweißverbindungen – die sind aber eher diffus und werden von
mir nur nebenbei registriert. Aber diese riesigen Zahlen machen mir
Bauchschmerzen: Über jeder Zahl steht eine fast entsprechende. Aber eben nur
fast. Ich soll nun die Zahlen vergleichen und die falsche Zahl wegwischen. Die
Chemo - Tabletten habe nämlich jetzt das richtige Ergebnis geliefert. Wie aber
soll ich wissen, was richtig und was falsch ist? Ich quäle mich tierisch, aber
bin unfähig , eine Entscheidung zu treffen ( es geht darum, krank zu bleiben
oder wieder gesund zu werden, vielleicht geht es langfristig gesehen sogar um
Tod oder Leben). Als ich fast am Verzweifeln bin, kommt mir - und damit wache
ich auf – die rettende Idee: Ich muss mich doch nicht jetzt schon entscheiden.
Ich muss Geduld haben, dann wird mir die Aufgabe abgenommen. Ich nehme ja morgen
und die beiden darauf folgenden Tage noch mehr von den Tabletten. Dann
verfestigen sich die richtigen Zahlen und die andern schrumpfen, bröckeln fallen
auseinander und ihre Reste werden dann sowieso in Lauf der Zeit von der Tafel
verschwinden bzw. können auch dann leicht erkannt und dann abgewischt werden.
Fortzetzung folgt:
Nun geht es weiter
Als ich aufwache bin ich verwirrt, erleichtert und fast fröhlich über diesen
Traum, denn das was ich geträumt habe ist doch eigentlich ein schönes Bild dafür
,wie die Chemo wirkt: Sie setzt einfach etwas ei, gibt etwas in den Körper, was
das „Gute“ wieder auf lange Sicht stark macht ( die richtigen Zahlen verfestigen
sich mit der Zeit) und das „Böse“ bröckelt weg, löst sich auf und wird
ausgeschwemmt, weil es als Warnsignal überflüssig geworden ist. Es hat seine
Aufgabe erfüllt, eine gute Aufgabe, mich rechtzeitig zu warnen und dafür bin ich
dankbar. Aber alle Lebewesen sterben, wenn sie ihre Aufgabe auf der Erde erfüllt
haben, das ist nicht Strafe oder Kampf, das ist Abschiednehmen in Liebe und
Dankbarkeit!
Beim Aufstehen wird als erstes der Blutzuckerwert ermittelt, er liegt jetzt bei
156, das ist fast normal. So darf er sein. Wieso stellt sich also Dr. Reinicke
so an? Will er mich einschüchtern? Egal, jetzt gibt es erst einmal Frühstück.
Danach erhalte ich zwei „Beutel“ Blut. Dabei lese ich, sehe fern, um 11.00 Uhr
taucht Frau Freudenreich auf. Wir haben ein sehr schönes langes Gespräch
miteinander, fast eine Stunde. Ich erzähle von meinen Traum. Sie ist angetan von
meinem positiven Bild.
Nach dem Mittagessen kommt Raimund und holt mich ab. Wir gehen zur Cafeteria
einen Kaffee trinken und um 14.00 Uhr weiter zu Professor Heen, der die Klammern
aus meiner Narbe entfernt.
Dann geht es nach Hause, wo ich die Chemo dann selbstständig weiterführe mit den
entsprechend verordneten zusätzlichen Medikamenten, die ich allerdings noch in
der Apotheke kaufen muss, Nexium zur Schonung des Magens und Glibenclamid zum
Senken des Blutzuckerspiegels, der ja, wie ich jetzt ja weiß, unter der Einnahme
von Dexamethason in schwindelnde Höhen steigt.
Bald merke ich, dass ich für die Zeit der Tabletteneinnahme nachts sehr schlecht
schlafe. Ständig werde ich von Albträumen geplagt. Immer wieder muss ich Zahlen
oder Wörter sortieren, ordnen, stapeln, katalogisieren und die Entscheidungen,
was wohin gehört, sind sehr schwierig. Diese wirren Träume habe ich Nacht für
Nacht, allerdings sind sie vorbei, als die Tablettenphase endet.
Ich habe mir angewöhnt, mich morgens noch einmal hinzulegen, wenn die Männer aus
dem Haus sind, dann kann ich noch mal gut schlafen bis gegen 10.00 Uhr, manchmal
sogar länger. Anschließend frühstücke ich gemütlich, zweimal die Woche spaziere
ich dann zur Krankengymnastik (Toll!! Der Arm macht gute Fortschritte!). Dann
ist PC-Time. Ich erledige Bankgeschäfte, lese in den Seiten der
Selbsthilfegruppen und profitiere von den Erfahrungen der Mitbetroffenen. Ich
mache mich schlau über das Krankheitsbild, die Chemo- sowie die Hochdosis- und
Stammzelltherapie. Des Weiteren sind Malen, Klavier spielen und Lesen angesagt
und die Seele baumeln lassen.
Zwischendurch kommt Besuch: die Nachbarn Rita und Andreas, die ehemalige
Nachbarin Dunja, Aus dem Kindergarten Nettchen mit Clara. Die Schule vermisse
ich dabei überhaupt nicht!
Am Abend ist es mit Raimund gemütlich, Abend essen, fernsehen- meist im Bett,
weil ich zeitweise am Abend ganz schön erschöpft bin von der Chemo. Auch
Spaziergänge stehen auf dem Programm, denn ich soll viel raus an die frische
Luft.
Seit ich das Blut bekommen habe, sehe ich nicht mehr so blass aus und fühle mich
auch nicht mehr so zerschlagen. Ich bin kräftiger und habe mehr Ausdauer. Der
Unterschied zu vorher ist enorm, trotz Chemo, so das Raimund frotzelt, ich hätte
Blut von einem spanischen Torero bekommen. Nur das Kreuz und der Nacken
schmerzen noch ganz gewaltig, vor allem bin ich sehr kreuzlahm, wie eine alte
Oma. Das Plasmozytom sitzt hier wohl schon ganz schön fest!
Die Nebenwirkungen, die ich nach dieser ersten viertägigen Tabletten-phase
feststelle, halten sich zwar noch in Grenzen, sind aber deutlich wahrnehmbar.
Unter der Einnahme von Zavedos und Dexamethason
leide ich nicht nur an Schlafstörungen und Albträume, nein auch körperliche
Symptome stellen sich sofort ein. Ich habe das subjektive Gefühl das der Kiefer
zu eng wird für die Zähne, die jetzt drücken und sich viel voluminöser anfühlen,
das Zahnfleisch bildet sich zurück, die Zähne fühlen sich locker an. Der
Geschmacksinn geht verloren, ich kann nur noch Süßes schmecken, alles andere
nehme ich nicht mehr wahr, alles schmeckt gleich. Ständig ist mir die
Mundschleimhaut ausgetrocknet und ich habe einen schalen, künstlichen,
chemischen Geschmack im Mund.
Auch mein psychisches Empfinden ist gestört. Ich nehme meine Umwelt wie aus
weiter Ferne wahr, fühle mich wie in einer Wattewolke, wie in einer Höhle,
abgeschirmt von der Außenwelt.
Es scheint, als hätte sich alles in mir zurückgezogen, meine Gefühle nehme ich
nur dumpf wahr. Was um mich herum vorgeht, dringt gar nicht bis zu mir vor. Ich
fühle mich müde und zerschlagen, weil ich in den Nächten schlecht schlafe und
scheine neben mir zu stehen, irgendwie staunend, verwundert.
Ab 26. Februar ist Einnahmepause, da lassen die Nebenwirkungen auch sofort nach
und sind innerhalb von drei bis vier Tagen wieder verschwunden.
Am 1. März ist Blutkontrolle auf der Station angesagt und anschließend
Besprechung in der Strahlenklinik, weil die Bestrahlungsbehandlung jetzt bald
beginnen soll.
Ich bekomme einen Termin für den 10. März zum Einmessen und Anzeichnen der
Stelle, die bestrahlt wird und einen weiteren Termin für die erste Bestrahlung
am 13. März. Danach werde ich vier Wochen lang an den Werktagen täglich für
zirka drei Minuten Bestrahlung in die Klinik fahren müssen.
Vom 2. bis 5. März muss ich wieder Tabletten einnehmen. Wie sehr mich das im
Vorfeld schon beschäftigt, registriere ich erst, als ich in der Nacht zum 2.
März träume.
Der Traum ist sehr verworren und zusammenhanglos, aber er beeindruckt und
beschäftigt mich den ganzen Tag. Leider weiß ich nur noch Teile – Bruchstücke!
Es geht um Weltherrschaft, Teufel gegen Gott, und es wird entschieden, wer die
meiste Macht hat, also an wen die Weltherrschaft übertragen werden wird. Der
Teufel wohnt mit seiner Familie (Schwester und Kind) im 7. Stock im Hochhaus,
Gott „schwebt“ über allem, ist nicht fassbar, nicht begrenzbar. Es wird klar,
dass Gott die Weltherrschaft übertragen bekommt, weil er mächtiger ist – dies
definiert sich über die Kinder: Der Teufel hat „nur“ eine Tochter, Gott hat
einen Sohn – Jesus. Daher steht das Kind des Teufels nur an zweiter Stelle, weil
es eben „nur“ ein Mädchen ist. Die Schwester des Teufels ist sauer, sie
interveniert, sie verlangt den Machtanspruch auf die Weltherrschaft für das
Mädchen, sieht aber schließlich doch ein, dass Männer nun mal mehr Macht haben,
also Jesus vor der der Tochter des Teufels für die Stelle prädestiniert ist.
Also hat Gott durch Jesus die Weltherrschaft inne und das Gute siegt immer über
das Böse, das Positive besiegt das Negative. Als ich aufwache ist mir klar, dass
die „bösen“ Zellen, so mächtig sie auch sind, verschwinden werden und die
„guten“ wieder stark werden und sich vermehren, die Oberhand gewinnen. Das ist
mir durch Gottes/ Jesu Macht sicher.
Diesmal nehme ich nicht die Chemo-Tablette Zavedos, sondern nur Dexamethason,
das ist hoch dosiertes Kortison. Jetzt stellt sich heraus, dass die übelsten
Nebenwirkungen nicht von der eigentlichen Chemo, sondern von dem Kortison
herrühren, denn schon am ersten Tag der Einnahme setzen die Nebenwirkungen
wieder ein.
Dr. Reinicke hat mir den Tipp gegeben, die Tabletten sehr früh morgens zu
nehmen, damit ich in der Nacht besser schlafen kann, den beherzige ich auch. Und
tatsächlich, ich kann gut schlafen. Aber die Träume, in denen die
Tabletteneinnahme verarbeitet wird, kommen trotzdem noch.
So träume ich in der Nacht vom 2. zum 3. März, dass ich jedes meiner Organe,
jeden Körperteil von mir röntge, katalogisiere und beschrifte. Dr. Reinicke gibt
seinen Kommentar bezüglich der Qualität ab, bevor ich alle Ergebnisse in eine
Tabelle eintrage.
Am Freitag, dem 3. März, fahren wir über Wochenende nach G., weil es mir recht
gut geht und ich die Tabletten auch hier nehmen kann. Das Örtchen ist dicht
verschneit und ich finde es herrlich. Hier haben wir zwei die Ruhe,- die wir
brauchen, und können uns gut erholen. Am Freitagabend gehen wir zum Italiener,
wie wir das immer tun, wenn wir am Freitagnachmittag ankommen.
In der darauf folgenden Nacht, eigentlich am nächsten Morgen, ungefähr zwischen
7.00 und 9.00 Uhr, habe ich wieder einen Traum, für den ich das Dexamethason
verantwortlich mache:
In einer Kur oder Reha ist Sport angesagt. Die sportliche Einlage (Boot fahren,
schwimmen und toben im Wasser) ist abgeschlossen. Kinder (und Erwachsene, denn
ich bin dabei) lernen nun eine neue Entspannungsübung.
Der Lehrer erklärt die neue Entspannungstechnik: wie eingeatmet wird und wie
über die Schulterblätter durch Herunterziehen der Schultern und Zurückrollen der
Armkugel die Luft ausgeatmet wird. Er nennt
auch den Namen dazu, wie diese Entspannungsübung heißt. Mit einem Jungen geht er
die Übung als Beispiel noch einmal durch und sagt dann, nun könnten sie alles
niederschreiben, damit sie sich die Übungen gut einprägen. Auf der Rückseite des
Blattes, das alle schon vorliegen haben, auf dem sich die Progressive
Muskelentspannung nach Jacobsen befindet, sollen sich alle diese neue
Entspannungstechnik notieren.
Der Junge, den ich vor Augen habe, nimmt sich seinen Bleistift und will
schreiben, da nimmt ein großer, kräftiger Junge, der plötzlich neben ihm sitzt,
sein Blatt weg, lacht verächtlich und sagt: »Schreib doch, schreib doch, aber
dein Blatt kriegst du nicht!« und wedelt damit durch die Luft.
Zuerst sieht es so aus wie ein Scherz. Der junge versucht, ihm das Blatt zu
entreißen, weil er schreiben will. Angst macht sich breit, dass er den
ungewöhnlichen Namen für die Entspannungsübung vergisst; also wird er massiver,
schubst, zieht kräftiger. Der »böse Junge« lacht jetzt noch fieser, hält das
Blatt noch höher und man sieht, er macht ernst. Er will den Kleinen austricksen
und der wird keine Chance haben.
Längst sitze ich gefühlsmäßig in dem »Opfer« — es ist mein Thema - ich fühle
seine Gefühle — ich bin er. Ich fange an mich körperlich zu wehren, hacke mit
meinem Bleistift nach dem Großen, um ihm Angst zu machen; der lacht sich
schlapp.
Ich fühle mich hilflos, wütend, verzweifelt, zornig — die ganze Gefühlspalette
durchströmt mich und ich kann nur noch verzweifelt denken: Ich brauche mein
Blatt, sonst vergesse ich alles!
Ich hacke jetzt mit der Bleistiftspitze wütend, schreiend, tobend auf ihn ein,
verletze ihn damit am Bauch, an der Seite, am Arm, das Blut läuft, aber er lacht
nur höhnisch weiter. Das treibt mich in grenzenlosen Wahnsinn und ich steche wie
wild auf ihn ein und ich weiß — wenn ich mehr Kraft hätte, könnte ich ihn töten
—ja, ich will ihn töten — aber leider bin ich zu schwach ... Entsetzt wache ich
bei dem Gedanken auf: Ich könnte ihn töten! Ich hyperventiliere und stöhne laut,
bis ich wieder in der Realität bin.
Ich bin geschockt über diese heftigen Gefühle, die, aus der Angst heraus zu
versagen, nicht gut genug zu sein, keine Leistung bringen zu können, entstanden
sind und mich so blockiert haben, dass ich nicht auf die nahe liegende Lösung
gekommen bin aufzustehen, wegzugehen, mir ein neues Blatt zu holen und woanders
alles in Ruhe auf- • zuschreiben und im Bedarfsfall noch bei einem anderen Kind
nachzufragen!
Während ich noch den Traum »verdauen« muss, hat Raimund Kaffee gekocht und
bringt mir einen Becher ans Bett. Das ist das Schöne an G., hier fängt der Tag
so gemütlich an.
Am Samstag machen wir einen Spaziergang ins Cafe Maja, wo wir bei Gunnar und Isa
den Nachmittagskaffee genießen und ich ihnen von meiner Krankheit erzähle, die
sind ganz schön geschockt.
Das Essen beim Italiener und den Kuchen bei Isa und Gunnar kann ich gar nicht
richtig genießen, weil ich wieder diesen Geschmacksverlust feststelle. Die Pizza
schmeckt fade, der Kuchen ist zwar süß, aber den Apfel kann ich nicht
herausschmecken. Zu dem seltsamen Geschmack und dem Gefühl wackeliger Zähne und
eines zu engen Kiefers kommen jetzt noch Bläschen im Mund, empfindliche
Schleimhäute, die Haut beginnt sich von den Lippen abzulösen. Noch stört es
nicht allzu sehr, nur beim Zähneputzen und beim Essen schmerzt es etwas.
Jetzt stellen sich auch noch diffuse Kopfschmerzen, Knochenschmerzen und
Sehstörungen ein. Ich sehe verschwommen und unklar, sage zu Raimund »Ich kann
das Elend nicht mehr sehen!« und wir lachen darüber. So lassen sich die
Nebenwirkungen ertragen.
Ab Montag nehme ich keine Tabletten mehr und einen Tag später lässt das Gefühl,
viel zu viele und viel zu große Zähne im Mund zu haben, wieder nach und auch die
Bläschen verschwinden.
Jetzt bekomme ich Halsschmerzen und bin schachmatt, liege bis 11.30 Uhr im Bett,
bis ich mich endlich aufraffe. Ich habe ein bisschen Angst, dass ich eine
Infektion bekomme und in die Klinik muss und fühle
mich den ganzen Tag irgendwie »daneben«; wie durch Watte empfange ich die
Umwelt.
Der Gang zur Krankengymnastik tut mir gut, doch als ich heimkomme bin ich schon
wieder ermattet. Der Arm fühlt sich an wie im Schraubstock, die Muskeln sind
hart und angespannt. Zum ersten Mal fand ich die Krankengymnastik heute nicht
überzeugend. Ich werde das Gefühl nicht los, dass etwas »kaputt« gegangen ist im
Arm. Angst steigt in mir hoch, dass das Plasmozytom weiter arbeitet und die
Knochen weich werden und die Platte wackelt, dann habe ich ein paar Schrauben
locker und so fühle ich mich auch!
Am Mittwoch habe ich immer noch Halsschmerzen, aber sie sind nicht stärker
geworden. Sonst fühle ich mich sehr gut. Nur mein Arm entwickelt sich nicht
weiter. Unbewusst beginne ich ihn zu schonen. Seltsam, das habe ich doch die
ganze Zeit nicht gemacht. Ich mache mir Gedanken, ob vielleicht mechanisch etwas
passiert, wenn beispielsweise das Plasmozytom sich weiter frisst. Aber das sind
wahrscheinlich nur Hirngespinste.
Am Donnerstag sind meine Halsschmerzen tagsüber kaum noch zu spüren, ich habe
mir ein Seidentuch umgebunden, das wirkt Wunder. Mir geht es gut, bis auf ein
unangenehmes Magendrücken, so ähnlich wie Sodbrennen, das habe ich auch in
Verbindung mit den Chemo-Tabletten schon gehabt. Nach dem Essen ist es weg, aber
ich kann ja nicht den ganzen Tag nur essen!
Zum Nachmittag hin steigert sich der Magendruck, der Schmerz strahlt in den
Rücken aus, die Lungenflügel oder die Rippenzwischenräume, das Rippenfell tun
weh. Mich packt die Panik, ich lege mich hin, nehme eine Nexium, mache
klassische Musik an und will ein bisschen entspannen. Da klingelt es und Ariane
und Christiane wollen mich besuchen. Sie kommen als Abordnung und bringen Blumen
von den Nachbarn. Ich freue mich riesig und das lenkt auch ein bisschen ab und
entspannt auf besondere Weise. Zu Anfang muss ich mich noch auf die Couch legen,
aber langsam lassen die Beschwerden nach, bis sie ganz verschwunden sind. Ist es
von der Tablette oder von dem entspannenden Klönschnack, ich weiß es nicht; ich
weiß nur, jetzt ist es wieder gut.
Am Abend sind wir früh im Bett, ich brauche Ruhe und Raimund guckt gerne im Bett
noch ein bisschen fern und schläft dabei ein. Das finden wir beide gemütlich.
Am Freitag, dem 10. März, startet die neue Tablettenphase, wieder ist es nur das
Dexamethason, das ich nehmen muss, zusammen mit einer halben Glibenclamid und
zwar nach dem Frühstück. Da ich mich noch aus der Jodtherapie herausschleiche,
muss ich täglich morgens vor dem Frühstück eine halbe Jodtabletten nehmen, bis
das Päckchen leer ist. Heute verwechsle ich die beiden, die sich sehr ähnlich
sehen, und ich nehme versehentlich die Zuckertablette anstelle des Jodids. Nach
dem Frühstück bemerke ich meinen Fehler. Nun kann ich nur hoffen, dass die
Auswirkungen nicht zu dramatisch werden.
Wir fahren heute in die Bestrahlungsklinik, wo ich den Termin habe zum Einmessen
und Kennzeichnen der Stelle am Arm, die ab Montag fünfmal vier Wochen lang, also
zwanzigmal bestrahlt werden soll. Als ich aus dem Auto steige, merke ich wie mir
seltsam wird. Raimund sucht noch einen Parkplatz, ich wanke inzwischen zur
onkologisch/ hämatologischen Station um die Unterlagen zu holen. Ich denke die
ganze Zeit: vorsichtig über die Straße gehen, so, jetzt hier entlang, auf den
Fußweg, damit nichts geschieht, jetzt ins Gebäude, Treppe hoch, durch die Tür,
gleich bist du da, da ist schon die Station, so, nur noch ein paar Schritte, nur
nicht umfallen, sonst behalten die dich da. Während ich die Unterlagen
anfordere, erscheint Raimund. Ich stütze mich bei ihm und wir gehen zur
Bestrahlungsklinik. Mir geht es jetzt schon etwas besser. Ich werde vermessen
und auf die Stellen, die bestrahlt werden sollen, wird eine Skizze, ein
regelrechter Lageplan, aufgezeichnet.
Auf dem Rückweg zur Station muss ich zur Toilette. Raimund setzt sich
währenddessen in den Aufenthaltsraum und guckt sich meine dicke Akte an. Als ich
wiederkomme, ist mir so flau, dass ich mich erst einmal dazusetze. Raimund holt
mir eine Cola Light, die ich in einem Zug runterschütte. So, nun geht es mir
besser. Wir durchforsten meine Akte zunächst nach »Neuigkeiten« und schauen uns
die Befunde genau an. Dann bringen wir sie zur Station zurück und nehmen uns
vor, bezüglich meiner Behandlung sehr kritisch nachzufragen. Da gibt es für mich
einen ungeklärten Widerspruch in der Medikation. Das muss am 15. oder 16. März
bei meiner stationären Aufnahme besprochen werden, denn wenn keine Klärung
stattfindet, bleibt das Vertrauen auf der Strecke.
Raimund und ich fahren nach Hause. Als wir dort ankommen, fühle ich mich schon
wieder so merkwürdig. Wir essen etwas und trinken Tee und schon fühle ich mich
wieder besser. Für den Rest des Tages bleibe ich allerdings weiß wie eine Wand.
Was ist das nur? Mal sehen wie sich das noch entwickelt.
Die typische Nebenwirkung des Kortisons bemerke ich heute, am ersten
Einnahmetag, noch nicht. Auch gut, ich brauche keine kneifenden, drückenden und
locker sitzenden Zähne oder kaputten Mund.
Ich vertrage das Dexamethason saugut, auch am nächsten Tag stellen sich immer
noch keine Nebenwirkungen ein, ich habe nur extrem viel Durst. Die Schwestern
der »Krebsstation« haben mir mit auf den Weg gegeben ich solle viel trinken,
etwa drei Liter, das schaff ich lässig. Vielleicht sind die Nebenwirkungen
deshalb weniger geworden?
Am dritten Tag der Tabletteneinnahme spüre ich dann doch das schon bekannte
Drücken der oberen Schneidezähne, registriere, wie empfindlich meine Mund- und
Nasenschleimhaut ist und auch der trockene schale Geschmack im Mund ist wieder
da. Großer Durst plagt mich durch die trockenen Schleimhäute, aber auch ein
gesegneter Appetit stellt sich ein. Also mit diesen Nebenwirklungen kann ich
leben!
Raimund und ich machen am Nachmittag einen großen Spaziergang, es ist knackig
kalt und es liegt Schnee, das macht Spaß und tut richtig gut. Langsam kehrt
meine Kondition zurück. Farbe habe ich auch wieder. Mal sehen, vielleicht
brauche ich am Mittwoch gar kein Frischblut! Schauen wir mal.
Am Montag, dem 13. März, nehme ich die letzten fünf Dexamethason und bis auf die
paar bisher erwähnten Nebenwirkungen hat sich nichts Negatives ergeben. Aber am
Mittwoch beginnt schon der zweite Zyklus, dann geht es außer mit Idarubicin ja
auch wieder mit Dexamethason weiter, mal sehen, wie ich das dann vertrage.
Heute Mittag ist um 14.15 Uhr die erste Bestrahlung angesetzt. In der
Strahlenklinik erhalte ich alle weiteren regelmäßigen Termine, die leider alle
um 12.15 Uhr liegen, in der Mittagszeit. Besser wäre es gewesen morgens ganz
früh oder am späten Nachmittag, dann hätte das Raimund mit seiner Arbeit
verbinden können. So muss er immer um 11.00 Uhr dort los, mich hier abholen, zur
Klinik fahren, mich wieder zurückbringen, dann wieder zur Arbeit. Wir lassen es
uns aber nicht nehmen, dann zusammen in der Stadt noch eine Kleinigkeit zu
Mittag zu essen. So wird es fast 15.00 Uhr, bis Raimund wieder in der Firma ist.
Kein Wunder, dass er bald jede Menge Minusstunden angehäuft hat. Aber er hat mit
der Betriebsleitung gesprochen, es ist okay, wenn er die Stunden irgendwann
einmal nachholt. Gut, dass die so tolerant sind. Ich selbst kann nicht mit dem
Auto fahren, Zug ist zu umständlich und die Kosten für ein Taxi würden zwar
erstattet werden, aber Raimund möchte mich lieber selbst fahren, er sagt, dann
sei er bei mir und sehe, dass es mir gutgeht. Das ist doch lieb von ihm!
Ende der Leseprobe
Quelle: Edition Fischer ISBN 978-3-89950-385-2